Kibera

Kibera. Zum Zeitpunkt dieser Geschichte ist es früher Nachmittag und wir sind nach knapp 16 km Fußmarsch in einer Bar angekommen. Wir bestellen zwei Bier und eine Packung süßen Rotwein für unseren Guide. Durch den permanenten Stromausfall laufen die Kühlschränke nicht richtig. Das Bier ist dementsprechend kalt. Eric schaut uns an und erklärt uns seine Welt: „Love me. Hate me. Help you. Leaving you alone. This is Kibera. This is life.“ Wir lauschen seinen Worten und stellen ziemlich schnell fest, dass wir mit unseren Fragen nach Zielen und Perspektiven nicht weit kommen. In unserer Welt geht es um Erfolg. Um die Zukunft. Um Leistung. Um Geld. Um die großen Themen. Das meiste passiert in der Zukunft. Wir arbeiten, um im hohen Alter unser Leben zu genießen. Es geht immer um den nächsten Moment. Eric, der von mir ernannte „King of Kibera“, lächelt uns immer wieder an. Manchmal schüttelt er mit dem Kopf. Dieser schlaksige Typ in seinem kaputten Manchester United Trikot. Da grinst er.

 
 

Rote Erde. Staub. Gestank und die Hitze. Wir stoppen mit dem Taxi. Mitten im Gewühle kommt plötzlich dieser Typ mit seinem schneeweißen Grinsen durch die Massen durchgelaufen. Zwei Sätze auf Suaheli und dann wird abgeklatscht. Ich kann mir einen Kommentar zu Manchester United nicht verkneifen. Das Eis ist gebrochen. Aber eigentlich gibt es keine Grenzen. Unsere Lektion beginnt hier. Zuerst begegnen wir Brian. Fotograf. Hat Obama schon vor der Linse gehabt. Breites Grinsen. Foto gemacht. Wir stehen übrigens auf der für den Straßenneubau planierten Fläche. Hier haben sie mehrere tausend Leute umgesiedelt. Umsiedeln im Sinne von: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Eric winkt uns weiter. Wir überqueren die Bahngleise, die mitten durch den Slum führen. Also wirklich mitten durch. Hier ein toter Hund. Da ein Müllberg. Es riecht nach Scheiße und die Hitze brennt uns rote Farbe auf die Haut. Für uns wird 1,70€ Schutzgeld bezahlt. Alles mit einem Lächeln. Die Fragen platzen nur so aus mir raus. Ich will wissen, wie das was ich mir nicht vorstellen kann, funktioniert. Hier stehen Moslems, Juden und Christen nebeneinander an, um in die Kirche zu gehen. Rassismus? Eric lacht: „Schaut euch hier mal um. Wir leben hier von 20 Litern Wasser am Tag. Pro Familie. Meinst du, wir können uns mit solchen Kindergartenproblemen wie Rassismus rumärgern? Das ist was für eure Welt!“ Mit jedem Schritt lernen wir diesen Ort mehr verstehen. An manchen Stellen schauen wir uns kurz an und staunen. Manchmal ungläubig. Manchmal überrascht. Wir stehen auf einer Brücke. Eigentlich ein schöner Anblick. Unter uns der „Fluss“. Eine ekelhafte braune Suppe. Hier läuft wirklich alles rein. Vom öffentlichen Klo fliegt dein Kram direkt in den Fluss. Direkt. Die Schweine, die in dieser Brühe stehen, fressen die Fäkalien raus und hängen wahrscheinlich später beim Metzger. Es sind mittlerweile drei Stunden vergangen. Wir werden ruhiger. Die Fragen werden weniger. Wir tauschen uns eigentlich nur noch aus. Ich spüre wie mein Waschgang im Kopf langsam realisiert, dass unsere Welt eine Scheinwelt ist. Des einen reud, ist des anderen Leid. Ein Ort, wie dieser könnte solche Weisheiten nicht besser ausdrücken.

Robert Strehler